Prozess wider Willen? Zu den Ermittlungen gegen den früheren SS-Mann Hubert Zafke
Vor zwei Jahre sind die Ermittlungen gegen den früheren SS-Mann Hubert Zafke wegen seiner früheren Tätigkeit im Konzentrationslager Auschwitz bekannt geworden. Am 29. Februar wurde die Hauptverhandlung vor dem Landgericht Neubrandenburg auf Grundlage der 83-seitigen Anklageschrift eröffnet. Bisher ist es der Verteidigung Hubert Zafkes gelungen, Gesundheit und Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit und des bisherigen Prozessgeschehens zu rücken. Die Stimmen der Überlebenden des Holocaust und der Angehörigen der Opfer blieben dagegen ungehört.
Zuerst holte den früheren SS-Mann seine Vergangenheit am 17. März 2014 in seiner Heimat in Gnevkow ein, einem 300-Seelen-Dorf im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, irgendwo zwischen Neubrandenburg und Demmin. Polizei- und Rettungskräfte rückten an, Beamte durchsuchten die Wohnung des damals 93-jährigen Hubert Zafke und brachten ihn in die Justizvollzugsanstalt Bützow. "Ich dachte, er muss in die Klinik", meinte ein Nachbar in der Regionalpresse. Einen Tag darauf wurde er eines Besseren belehrt: Landauf und landab berichteten die Medien über Ermittlungen wegen der Vergangenheit Zafkes als SS-Mann im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Die Einwohnerinnen und Einwohner von Gnevkow betonten gegenüber der Presse, von dieser Vergangenheit nichts gewusst zu haben. Zafke sei nach dem Krieg in den Ort gezogen und habe nie über die Zeit vor 1945 gesprochen. Man kennt ihn stattdessen aus seiner Zeit in der LPG, er gilt als freundlich und unauffällig. Zwei Jahre später, im Frühjahr 2016, findet nunmehr die Eröffnung des Gerichtsverfahrens gegen den früheren SS-Sanitäter weltweite Aufmerksamkeit. Der Anklage: Beihilfe zum Mord in in 3.681 Fällen.
Die Untersuchungshaft konnte Hubert Zafke nach drei Wochen wieder verlassen – bei der Schwere der Vorwürfe seien zwar Fluchtanreize vorhanden, hieß es, doch angesichts des Alters und der Gesundheit des Tatverdächtigen reiche es, wenn dieser sich regelmäßig bei der Polizei melde. Für die Ermittlungsbehörden hatte derweil nun die eigentliche Arbeit begonnen. Unter der Federführung des Landeskriminalamtes und der Staatsanwaltschaft Schwerin gingen sie im In- und Ausland der Vergangenheit des SS-Mannes nach. Im Frühjahr 2015 traf schließlich in sechs Umzugskartons voller Dokumente die Anklageschrift im Landgericht Neubrandenburg ein.
Dass nach Jahrzehnten weitgehender Ignoranz dieser Fall überhaupt noch aufgegriffen wurde, ist der veränderten Rechtslage geschuldet. Lange blieben viele jener Männer und Frauen, die das System der Konzentrations- und Vernichtungslager aufrechterhielten, von der bundesdeutschen Justiz unbehelligt. Mord verjährt zwar nicht. Doch nur eine unmittelbare und individuelle Tatbeteiligung reichte für Verurteilungen aus. Diese Rechtsprechung änderte sich 2011, als John Demjanjuk für seinen Wachdienst im Vernichtungslager Sobibor belangt wurde. Die Aufrechterhaltung des Lagersystems ermöglicht seitdem auch eine Strafverfolgung wegen der Beteiligung am Morden, wenn die Angeklagten von dieser tödlichen Praxis wussten. Ein polnisches Gericht hatte Hubert Zafke zwar nach dem Krieg für seine Mitgliedschaft in der SS zu vier Jahren Haft verurteilt. Für seine Tätigkeiten in Auschwitz-Birkenau und anderen Lagern ist er jedoch nicht belangt worden.
In der Öffentlichkeit Mecklenburg-Vorpommerns schien man sich mehr als für solche juristischen Aspekte oder das Schicksal der Opfer der Konzentrationslager für die Gesundheit des Angeklagten zu interessieren. Mehrmals diskutierte die regionale Medienlandschaft, ob die Ermittlungen angesichts des hohen Alters Zafkes ausgesetzt werden sollten. Kommentatoren verneinten dies zwar, und Leser betonten: "[...] der Massenmord in Konzentrationslagern sollte auf keinen Fall unbestraft bleiben. Besser spät als nie." Doch es kamen auch jene zu Wort, die vom Holocaust nichts mehr hören wollten: "Kann man die Leute nach 70 Jahren nicht zufrieden lassen?", fragte etwa ein Leser des Nordkuriers.
Solche Stimmungen versucht die Verteidigung Zafkes gezielt zu schüren. Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel, erfahren in öffentlichkeitswirksamen Verfahren und der Verteidigung von Prominenten, wies anfänglich noch jede Beteiligung seines Mandanten an Gräueltaten zurück – obwohl es der Anklage darum gar nicht geht, sondern sie auf die Rolle Zafkes als Zahnrad im Getriebe der Vernichtungsmaschinerie abstellt. Inzwischen hat sich Diestel darauf verlegt, die Verhandlungsfähigkeit seines Mandanten anzuzweifeln. Mit einer offensiven Medienarbeit, die um plakative Aussagen und Provokationen nicht verlegen ist, verschafft er seiner Seite vor allem in der Regionalpresse erfolgreich Gehör. Dabei schreckt der Verteidiger auch nicht vor einer geschichtspolitischen Aufladung des Verfahrens und zweifelhaften Äußerungen zurück: Die Taten seines Mandanten in Auschwitz, behauptet er etwa, seien mit jenen von 80 Millionen Deutschen im Dritten Reich vergleichbar; dass die Staatsanwaltschaften inzwischen anders als in der Vergangenheit akribisch gegen mögliche NS-Verbrecher ermitteln, bezeichnete er als "peinlich“; die Eröffnung des Verfahrens kritisierte er als "Todesurteil" gegen seinen Mandanten.
Diestel ist es allerdings nicht nur gelungen, in der öffentlichen Wahrnehmung den Gesundheitszustand des früheren SS-Manns Zafke zum bestimmenden Thema zu machen. Auch das Verfahren wird seit einem Jahr von der Frage der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten dominiert. Dieser könne einen Gerichtsprozess nicht aushalten, behauptete sie bereits rasch nach der Überstellung der Anklage im Frühjahr 2015 und versuchte dies mit eigenen ärztlichen Gutachten zu untermauern. Im Juni 2015 folgte das Landgericht Neubrandenburg dieser Argumentation. Zafke leide unter einer unumkehrbaren senilen Demenz, hieß es dazu in der Presse, sein Gesundheitszustand verschlechtere sich stetig und einem Verfahren könne er nicht in dem notwendigen Maß folgen.
Nicht nur bei den Anwälten der Opfer von Auschwitz, der Nebenklage, traf diese Entscheidung auf Kritik: Das dem Urteil zugrundeliegende Gutachten basiere auf einem Gutachten, das die Verteidigung des Angeklagten in Auftrag gegeben habe, betonten sie gegenüber den Medien. Auch die Staatsanwaltschaft widersprach der Entscheidung vor dem Oberlandesgericht Rostock. Dieses beschloss zum Jahresende 2015 auf der Basis eines neuen ärztlichen Gutachtens, dass der Angeklagte verhandlungsfähig ist. Seinem Gesundheitszustand müsse – wie in vergleichbaren Fällen – durch Maßnahmen wie regelmäßige Untersuchungen und verkürzte Verhandlungstage Rechnung getragen werden.
Inzwischen waren jedoch Zweifel laut geworden, ob das Neubrandenburger Landgericht den Prozess überhaupt führen will oder ob es sich nicht bereits der Position der Verteidigung angeschlossen hat. In einem überraschenden und im juristischen Alltag sehr ungewöhnlichen Schritt stellte deshalb die zuständige Staatsanwaltschaft Schwerin einen Befangenheitsantrag gegen das Gericht – in der Regel ein Instrument von Verteidigung oder Nebenklage. Die Voreingenommenheit des Gerichts, so der Verdacht, zeige sich im Vorhaben, an den Anfang des Prozesses eine erneute Prüfung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zu stellen, nur drei Verhandlungstage anzusetzen und weder Zeugen noch Beweismittel vorzusehen. Auch die Vertreter der Nebenklage sahen die Unabhängigkeit des zuständigen Richters angesichts dessen bisheriger Prozessführung nicht mehr gewährleistet. Die Anträge wurden abgelehnt.
Der Beginn des Prozesses am 29. Februar 2016 und die Krankmeldung des Angeklagten offenbarten schließlich, dass vorerst auch weiterhin dessen Gesundheitszustand im Vordergrund der Auseinandersetzung stehen wird. Über die Tatvorwürfe, über die Geschehnisse im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und über das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen, das bis heute anhält, wurde vor Gericht noch nicht gesprochen. Hubert Zafke lässt seinen Verteidiger viel über sich reden und nimmt eine Politisierung des Verfahrens in Kauf. Er scheut auch nicht davor zurück, sich gegenüber der Presse als unschuldig darzustellen. Die Chance zu einer ehrlichen und verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit hat er bisher nicht genutzt.